GPS: -34.9053, -56.1686, Google Maps
Montevideo! - welch klingender Name. Ich kenne diesen Namen von einem Brettspiel. Mit bunten Stecknadel-Fähnchen markiert hüpften wir als Kinder von Kontinent zu Kontinent: Berlin - Addis Abeba - Singapur - Christchurch - San Francisco - Montevideo! Prächtig, strahlend, aufgeweckt und modern - das ist meine Vorstellung, die ich nun mit der Realität in Einklang bringen muss. Von Buenos Aires kommend, passen diese Attribute alle auf die argentinische Hauptstadt. In Montevideo ticken die Uhren langsamer und der Putz ist schon oder noch etwas abgebröckelt. Doch der Reihe nach.
Auf 97 km/h bringt es unsere Katamaran-Fähre Buquebus. Wie in einem großen Flugzeug fliegen wir einfach über die Wellen hinweg und merken vom Seegang nichts. Knapp zwei Stunden dauert die Überfahrt von Buenos Aires nach Montevideo, Abfertigung und Gepäckabgabe wie beim Fliegen, kostet auch soviel wie ein Flug (100 EUR pro Person), ist nur wesentlich komfortabler!
Montevideo empfängt uns mit 50 mm Niederschlag, d.h. es schüttet den ganzen Tag wie aus Kannen, während wir uns vom Hafen aus zuerst zu einem Geldautomat, dann zu unserem Agenten, vom Agent zur Einwanderungsbehörde Dirección de Migración, von dort zurück zum Agent und dann endlich zu unserer Unterkunft durchkämpfen. Den Agenten Eduardo Kessler haben wir engagiert, um die Nerven während des Import-Prozesses unseres Autos etwas zu schonen.
Die erste Frage von ihm lautet „Do you have migraciones?“ und wir wissen nicht so recht, was er damit wohl meint. Vorsichtshalber antworten wir, dass wir nicht einwandern wollen. Nachdem wir uns im englisch-spanisch Kauderwelsch per WhatsApp etwas aneinander vorbei unterhalten haben, ist der erste persönliche Eindruck sehr positiv. Eduardo macht uns Hoffnung, dass wir am Montag unser iMobil aus dem Hafen fahren können. Hoffnung! - ganz sicher ist er sich nicht. Erst muss die Grande Buenos Aires einen Ankerplatz im Hafen bekommen, der im Moment noch von einem Kreuzfahrtschiff blockiert ist. Das passiert tatsächlich noch am späten Freitag Nachmittag, aber da sind die Hafenbehörden schon im Wochenende… Erst am Montag geht’s mit der Zollabwicklung weiter: zwei Tage, um Montevideo ohne Auto zu erkunden. (Wer mehr zu migraciones wissen will, lese die Beschreibung der Zollabwicklung.)
Entgegen allen Erwartungen verfällt die Stadt am Wochenende in eine Art Ruhemodus. Das beginnt am Samstagmorgen damit, dass wir um 8 Uhr kein geöffnetes Café zum Frühstücken finden. Normalerweise keine Frühaufsteher, irren wir mit unserer inneren Uhr, die noch nach mitteleuropäischer Zeitzone tickt, erst einmal eine Stunde durch die Stadt und die Mägen beginnen zu knurren, bevor wir uns um 9 Uhr als erste Gäste eines Cafés über ein Omelett hermachen. Am Sonntag sieht es gleich ganz düster aus - unsere Vermieterin hatte es schon prophezeit. Es sind wirklich alle Läden der Restaurants und Cafés heruntergelassen. Alle? McDonald’s hat natürlich auf, aber deswegen sind wir nun wirklich nicht nach Montevideo gekommen. Schließlich finden wir noch ein lokales Fast-Food-Restaurant. Besser als nichts!
Durch die Stadt schlendernd sehen wir wunderschöne alte Gebäude - etwas marode, verfallen oder kurz davor. Nur wenige Glanzlichter dazwischen. Plateau-Sohlen, die in Buenos Aires die Blicke auf sich ziehen, sind gerade erst dabei über den Rio de la Plata zu schwappen. Etwas abseits des Zentrums sind die Bürgersteige mit Schlaglöchern durchsetzt und wirken hochgeklappt. Geschäftsschluss ist um 18 Uhr, am Samstag um 14 Uhr und am Sonntag bleiben die Läden bis auf die Supermärkte zu. Das Leben pulsiert nicht wirklich wie wir es uns in einer südamerikanischen Metropole vorgestellt haben. Vielleicht haben wir mit Buenos Aires - Montevideo die falsche Reihenfolge gewählt…
… oder bewegen wir uns vielleicht doch noch in der falschen Zeitzone? Wir landen bei unserem Sonntagmorgen-Spaziergang durch die fast leere Innenstadt gegen Mittag an der ebenso leeren Strandpromenade. So gegen 14, 15 Uhr beginnen sich jedoch die Straßen, Strände, Parks und Spielplätze zu füllen. Alt und Jung, allein oder in Gesellschaft, kommt jetzt zum Sonntag-Nachmittags-Happening (aus den Federn?) gekrochen und genießt die Frühlingssonne.
Jeder Zweite hat eine Thermoskanne unter den Arm geklemmt und ein etwas seltsam anmutendes Gefäß mit Trinkhalm in der Hand - das sind die traditionellen Kalebassen aus Kürbis mit einer Bombilla, d.h. einem Trinkrohr mit eingebautem Sieb, durch das man Matetee schlürft wo immer man geht und steht. Besser Ausgerüstete haben eine Matetee-Umhängetasche mit den erwähnten Utensilien über der Schulter. Man sitzt auf der Kaimauer oder am Strand, schwatzt, liest, macht Sport und lässt es sich gut gehen.
Und gegen Abend werden die Uruguayer dann so richtig wach. In einer Nebenstraße wird der Aufmarsch für Karneval mit unglaublichem Einsatz geprobt. Kommt ein Auto, marschiert man kurz rückwärts, dann trommelt man vorwärts weiter. Wir sehen mehr als eine halbe Stunde dem Spektakel zu - ein Ende ist nicht abzusehen. (An den folgenden Abenden hören wir jeden Abend die Trommelwirbel bis zu unseren Übernachtungsplätzen - der 11.11. ist nicht mehr weit.)
Gerade schaffen wir es noch rechtzeitig um 19:30 Uhr zum Mercado de la Abundancia, wo jeden Sonntagabend in den Joven Tango Club geladen wird: Chansonette, Musiker, Kabarettisten und Einlagen eines Professors mit seinen Tangoschülern stimmen ein, bevor das Publikum selbst das Tanzbein schwingt. Im Alter von 30 bis geschätzt 80 schiebt man sich im 1-2-Tango-Schritt vorwärts. Nein, das trifft es nicht - die meisten bewegen sich, wie wenn sie schon bei Weltmeisterschaften im Lateinamerikanischen Tanzen dabei gewesen wären. ¡Grande aplauso!
Jetzt sind wir diejenigen, die frühzeitig das Feld räumen. Kurz vor Mitternacht sind wir in unserer Unterkunft. Da fängt die Party erst richtig an…
… Wenn wir weiterhin so früh ins Bett gehen, kommen wir nie zusammen. Montevideo und wir. Immerhin hat uns diese klingende Stadt an ihrem ganz besonderen Charme schnuppern lassen.