GPS: -32.48838, -52.59066
Zwei Tage nach Weihnachten fahren wir über die Grenze von Uruguay nach Brasilien: schnell und unkompliziert, sogar ganz und gar ohne Lebensmittelkontrolle. Letzteres schulden wir wahrscheinlich der unmittelbar bevorstehenden Mittagspause des Zollbeamten. Egal: Wir sind drin! Jetzt noch Geld abheben, Einkaufen, Simkarte besorgen. Aber das ist eine separate Geschichte.
Noch 160 Kilometer bis zur Laguna Merín*. Kurz vor unserem Übernachtungsplatz machen wir halt bei der „Lancheria Mirím“. Da stehen schon drei Motorräder vor der Terrasse - ein gutes Zeichen. Motorradfahrer wissen, wo’s schmeckt. Die drei Paare entpuppen sich als privater “Motorradclub”, der gerade eine 10.000 km-Tour in drei Wochen macht „ Amigos Moto Adventura 2023“. Bis nach San Pedro de Atacama fahren sie und natürlich wieder zurück - Uih!. Eine sehr schöne Runde zweifelsfrei, aber wir bräuchten dafür drei Monate, mindestens. Was wir bis dahin noch nicht wissen: die Brasilianer lieben alles, was fährt und laut knattert: Motorräder, Mopeds, Quads, … Diese Aufzählung werden wir noch ein bisschen erweitern müssen.
Obwohl es schon spät ist, haben die Motorradfahrer Zeit - alle Zeit der Welt - sich mit uns ausgiebigst zu unterhalten. Ein bisschen Englisch, ein bisschen Spanisch, ein bisschen Google Translate. Viel Gelächter. „Des krieche ma scho hie!“ Auch die Bestellung krieche ma hie. Eigentlich geht es nur um ein Sandwich, ein Riesensandwich im Format 25 x 25 cm, mit Fleisch oder Schinken oder Hühnchen, Käse ja/nein, Ei ja/nein, Tomaten ja/nein, Mayonnaise ja/nein. Die Bestellung dauert - auch mit Hilfe unserer brasilianischen Motorradfreunde - länger als die Zubereitung. Aber alle amüsieren sich köstlich.
Es ist Urlaubszeit - die Zeit „zwischen den Jahren“. Aber als wir zwei Tage nach Weihnachten ankommen, sind wir noch fast allein am Strand. Erst nach und nach trudeln die Brasilianer ein. Mit PKWs mit und ohne Anhänger. Mit LKWs - im leeren Container kann man schlafen. Mit Pferdeanhänger - ebenfalls leer zum Schlafen geeignet. Mit Traktor und Anhänger. Mit alten Bussen - die sind ausgebaut zu Campern. Sie bauen Zelt- und Wagenburgen, spielen Ball und Friesbee, liegen oder sitzen im Wasser. Im(!) Wasser auf Stühlen unterm Sonnenschirm!
Und grillen natürlich. Um elf fangen sie damit an, es qualmt an allen Ecken. Und die Grills rauchen bis zum Abendessen und ständig liegt Fleisch drauf. Viel Fleisch, stundenlang. Zum Beispiel ein-Meter-lange Fleischspieße. Die Spieße haben Degengröße. Ein deutsches Fleischspießchen sieht dagegen aus wie aus der Puppenstube. Die Brasilianer würden sich kaputt lachen.
Wir lachen uns dagegen kaputt über die Autos bzw. die Kofferräume. Wenn in Deutschland das Auto ein Statussymbol ist, dann ist es in Brasilien der Kofferraum. Anhalten. Motor aus. Musik an. Kofferraumklappe auf! Alle Autos stehen mit offener Kofferraumklappe am Strand. Darin werden öffentlich zur Schau gestellt: die Boxen. Die dröhnen und wummern, was das Zeug hält. Bloß den Nachbarn übertönen. Wenn nicht, dann noch ein bisschen lauter drehen. Egal, wenn einem das Ohr wegfliegt. Die Schwimmbad-Geräuschkulisse spielender Kinder tritt schnell in den Hintergrund. Zu hören sind nur noch die Bässe und …
… da der Kofferraum mit Boxen ausgebaut ist, kommen die Brasilianer vielfach mit Anhängern, darauf sind nicht nur die Gartenstühle und das Sonnenzelt, die Matratzen und der Grill, darauf ist alles, mit dem man durch die Dünen bzw. den Strand entlang knattern kann: Geländemotorräder, Quads, Buggies, Seifenkisten aller Couleur. Sie knattern von rrrr-rrrr-rrrr bis RENN-NENN-NENN-NENN!!! Je lauter, desto besser! Es gibt Wettbewerbe im Knatterton! Ganz sicher.
Das aberwitzigste ist, dass um Mitternacht, pünktlich zu Beginn des neuen Jahres, die Motoren noch einmal angeworfen werden und dann geht es RENN-NENN-NENN-NENN ins neue Jahr. Ohne zu fahren. Gas geben bis die Funken aus dem Auspuff fliegen! Und die Fehlzündungen von den Krachern kaum zu unterscheiden sind. PROST NEUJAHR!
Was für eine abgefahrene Fete, auf die wir da geraten sind! Aber genau das war unsere Absicht: mitten im brasilianischen Gewühl das neue Jahr zu beginnen. Wie schön!
Der Spuk hat am Silvestermorgen langsam angefangen, der Höhepunkt war natürlich um Mitternacht und am Neujahrsabend ist er vorbei. Am drei Kilometer langen Strand stehen noch fünf Autos. So wie zuvor. Dazwischen, so schätzen wir, waren es 5000 Menschen oder mehr. Statt zwei Tage Wummern und Knattern hören wir jetzt Gitarrenklänge aus der Ferne. Auch schön!
Außer Motorgeräuschen und Musik war es übrigens absolut friedlich. So viele Menschen, kein Gegröle, kein Gekreische, keine Besoffenen. Im Gegenteil, wir haben den Eindruck, Alkohol spielt keine Rolle. Die meisten haben ihre Mate-Thermoskanne unterm Arm und süffeln aus ihrer Bombilla. Was ein Unterschied der Kulturen!
Und ebenso bemerkenswert ist: jeden Morgen fährt das Müllauto durch, die Dixie-Klos werden gesäubert und geleert. Der Strand sieht nach der Party aus wie zuvor, nämlich picobello.
Nachtrag: So wie uns die Lagune Merín willkommen geheißen hat, so nehmen wir hier sechs Wochen später Abschied von Brasilien. Und finden es wieder genauso schön.
*Die Laguna Merín sieht auf der Karte eigentlich gar nicht so groß aus. Wir kommen in der Dämmerung an und ich wundere mich am ersten Morgen, dass man das andere Ufer nicht sieht. Aber es stellt sich heraus, sie ist sieben mal größer als der Bodensee! An die Brasilianischen Dimensionen müssen wir uns erst noch gewöhnen, das Land ist dreiundzwanzig Mal größer als Deutschland!